Kolonialismus im Deutschen Reich?
Vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 fand in Berlin eine Konferenz der Staaten statt, die zu dem Zeitpunkt koloniale Interessen und Politik verfolgten: die USA, das Osmanische Reiche, Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Portugal, Russland, Spanien und Schweden-Norwegen. Sie diskutierten und regelten nicht nur Handelsinteressen, sondern auch Kolonialbesitz: Mehr als 10 Million Quadratmeilen des afrikanischen Kontinents wurden auf einer über 5m hohen Karte an der Wand mit dem Lineal aufgeteilt. Das ist noch heute anhand der Grenzverläufe zu sehen. Die Interessen der Bewohner*innen waren irrelevant, viele Bevölkerungsgruppen wurden durch künstliche Grenzen getrennt, was bis heute Folgen für die Menschen hat. So wurden auch die deutschen Kolonien Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika errichtet. Dabei formulierte Bismarck für die Konferenz der Kolonialmächte das Ziel, den Menschen in Afrika „den Anschluss an die Zivilisation zu ermöglichen“…
Völkerschauen und Kolonialausstellungen
Wie dieser „Anschluss an die Zivilisation“ in der Regel verstanden wurde, zeigt die Praxis der Völkerschauen und Kolonialausstellungen: Bereits in den 1870er Jahren entwickelten sich sogenannte Zoos, in denen außer-europäische Menschen zur Schau gestellt wurden. Diese gewaltvolle und ungleiche Form von „Kulturbegegnung“ etablierte in Deutschland vor allem der Tierhändler Carl Hagenbeck.
Grundlage dieses Ausstellen von Menschen, war die Vorstellung, es gäbe verschiedene Menschenrassen mit verschiedenen Wertigkeiten. Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich ein sozialdarwinistisch geprägter Rassismus durch, der auf der Basis naturwissenschaftlicher Theorien und Methoden rassistische Klischees zu „beweisen“ versuchte. Das trug dazu bei, dass Rassismus „normal“ wurde, weil „Rassenunterschiede“ mit biologischen „Tatsachen“ begründet wurden und davon ausgegangen wurde, dass diese unfehlbar und objektiv seien. Auf diese Weise wurden rassistische Verbrechen legal und normal. [Anknüpfungspunkt für Station zur Kolonialen Wissenschaft]
Die größten Veranstaltungen waren die Deutschen Kolonialausstellungen. 1896 fand die erste im Treptower Park in Berlin statt. Über 100 Vertragsarbeiter*innen aus Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika mussten teilnehmen. Einige blieben entgegen den Erwartungen der Behörden in Deutschland und gründeten Familien. „Aus einer recht kleinen afrikanischen Diaspora in Deutschland entstand eine schwarze deutsche Minderheit. […] Einigen wenigen gelang es, sich als Handwerker niederzulassen. Gerade die Akademiker unter ihnen konnten ihren erlernten Beruf nicht ausüben.“[1] Heute gibt es einige Arbeiten zu diesen Menschenzoos, die die Perspektive der ausgestellten Personen stark machen.
Auch in Thüringen wurden Kolonialausstellungen und Völkerschauen zur Unterhaltung der Bevölkerung organisiert. [Anknüpfungspunkt für lokale Orte und Geschichten → Eisennach]
Deutsche Kolonialgesellschaft
Idee und Werte des Kolonialismus in der deutschen Bevölkerung zu verbreiteten und diese zu aktivieren, hatte sich die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) als Ziel gesetzt. Mit einem festen Sitz in Berlin wurde die DKG 1887 gegründet[2] und wuchs bis 1914 auf 42 000 Mitglieder an. Sie warb für eine expansive Kolonialpolitik – immer größer, immer mehr. Dabei setzte sie auf Kulturveranstaltungen, Ortsgruppen und spezifische Jugend- und Frauenorganisationen, die sich in ihrem Sinne weiterbildeten. 1916 formulierte sie als Leitsätze für die künftige Kolonialpolitik des Deutschen Reichs u.a. die Schaffung eines mittelafrikanischen Kolonialreichs sowie Kolonien in Ostasien. Nachdem das Deutsche Reich als Verlierer des Ersten Weltkrieges 1919 seine Kolonien abgeben musste (Versailler Friedensvertrag)[3] warb die Deutsche Kolonialgesellschaft für die Wiedererrichtung des deutschen Kolonialreiches. Die Ziele in der Kolonialpolitik stimmten zudem mit denen der NSDAP überein, sodass diese ab Ende der 1920er Jahre eng mit der DKG zusammen arbeiteten. Noch im März 1936 forderte Hitler im Reichstag die Rückgabe der Kolonien. 1933 wurde die Deutsche Kolonialgesellschaft in den Reichskolonialbund eingegliedert und 1943 schließlich aufgelöst. Bis dahin wurde der Plan verfolgt, jenes „Mittelafrikanische Kolonialreich“, das bereits 1916 als Ziel der DKG formuliert wurde, als „tropische Ergänzung“ eines nationalsozialistischen Europas zu gründen. Koloniale Gruppen und Verbände gründeten sich im ganzen Reich.
[Anknüpfungspunkt für lokale Orte und Geschichten → Jena]
… auch in Jena. Hier war insbesondere die koloniale Jugendbewegung aktiv. Verschiedene, aber miteinander kooperierende Jugendgruppen waren in Jena insbesondere zwischen 1918 und 1939 aktiv. Ein Beispiel ist die „Kolonialkrieger-Kameradschaft Jena“. Sie wurde 1904 (noch unter anderem Namen) gegründet und war Teil der Kolonialen Jugendabteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft. Mit Vorträgen von ehemaligen Schutztruppenangehörigen[4], Zeltlagern, Wanderungen oder Schießsport bemühten sie sich, die jüngere Generation für die kolonialen Ideen zu begeistern und später Unterstützer*innen für den Kampf um die Rückgewinnung der deutschen Kolonien zu gewinnen. Auch Rudern auf der Saale gehörte zu ihren Tätigkeiten. Das Bootshaus befand sich seit 1928 oberhalb des Rasenmühlenwehrs. Ihre Boote benannten sie dabei nach den Deutschen Kolonien. Sie trugen eigene Uniformen und Abzeichen, hielten wöchentlich Versammlungen ab und beteiligten sich an den Reichstreffen. Ab 1933 wurden die Jugendgruppen schrittweise in die Hitler Jugend (HJ) eingegliedert, die immer noch über spezielle „Kolonialscharen“ verfügte. (Auch wenn uns über andere Organisationen derzeit noch nichts genaues bekannt ist, lassen sich Bezüge von Einzelpersonen wir Karl Dove (Professor der Geographie) und Frieda von Bülow (Schriftstellerin) aufzeigen.)
Die koloniale Gewalt – gesetzlicher Rassismus
Das koloniale System basierte auf einer rechtlichen Ungleichheit (1). Diese wurde damit begründet, dass die Gesellschaften in den Kolonien nicht fähig seien zu einer gleichberechtigten Ordnung nach den „europäischen Werten“ – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Zu groß sei die Unruhe und Wildheit der Bevölkerung. Das zog eine zweite Säule des Kolonialismus nach sich: Mission und „Bildung“ (2): Die „Bürde des weißen Mannes“ sei es, die Vormundschaft über die kolonisierte Bevölkerung zu übernehmen, sie zu erziehen und ihr die Zivilisation zu bringen – dafür sei es legitim Ressourcen der einheimischen Bevölkerung zu nutzen. Das Sendungsbewusstsein für die „überlegene“ Kultur entwickelte sich bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit den Revolutionen und der industriellen Entwicklung. Durchgesetzt wurden diese Prinzipien mit Arbeitszwang und Gewalt (3). Die Vorstellung „Erziehung durch Arbeit“ – wie sie später vor allem im Nationalsozialismus ausgeübt wurde – war bereits in den deutschen Kolonien zu finden und hat tausende Menschen das Leben gekostet. Eine militärische und wirtschaftliche Dominanz verband sich somit im kolonialen System mit einer kulturellen Vorherrschaft und wissenschaftlichen Deutungshoheit, die bis heute vorherrschend ist.
Die Gesetzgebung über sogenannte Mischehen zeigt sehr gut, wie Gesetze und Recht für die praktische und systematische Umsetzung des kolonialen Rassismus genutzt wurden: 1905/6 wurden „Mischehen“ verboten. Im Reichstag wurden zahlreiche Diskussionen um die „Mischlingsfrage“ und die Staatsbürger*innenrechte von Schwarzen Deutschen geführt – um die rassistische Ordnung in den Kolonien und Deutschland aufrecht zu erhalten. Mit dem ersten Weltkrieg wurden jedoch viele Schwarze als Soldaten von den europäischen Staaten rekrutiert – und auch in Europa eingesetzt. So wurde bspw. das Rheinland von Soldaten besetzt, die zwar alle unter französischer Flagge kämpften, aber unterschiedlicher Herkunft waren – und unterschiedliche Rechte hatten. In dieser Zeit entstanden auch verschiedene Beziehungen und Kinder. Seit 1937 wurden über 500 „Rheinlandkinder“ und andere Schwarze Personen unter Geheimhaltung sterilisiert.[5] Und es wurden immer mehr Verbote erlassen: über das Auftreten in der Öffentlichkeit oder den Schulbesuch – bis hin zum Zwang zur Arbeit und der Verschleppung in Konzentrationslager. Bis heute gibt es keine zuverlässigen Zahlen wie hoch die Opferzahl von Menschen afrikanischer Herkunft durch den Nationalsozialismus ist.
Machtkalkül – Sozialpolitische Gründe für Kolonien
Neben den genannten ideologischen Gründen für die koloniale Praxis des Deutschen Reichs mischten sich auch ganz pragmatische Überlegungen: Die soziale Frage hatte sich im Zuge fortschreitender Industrialisierung immer weiter zugespitzt. Mit der Propaganda für die Kolonien versuchten Konservative, zum einen von der erstarkenden Arbeiter*innen- und sozialdemokratischen Bewegung sowie von drängenden nationalen Aufgaben – wie der Sozialgesetzgebung – abzulenken. Im Zuge des immer stärkeren Kapitalismus wurden zudem neue Möglichkeiten gesucht, Produkte deutscher Firmen zu verkaufen und neue Märkte zu erschließen. Für diese Produktionen wurden zudem Rohstoffe benötigt. Die Globalisierung entwickelte sich immer mehr.
Literaturhinweise
- Marianne Bechhaus-Gerst : ‚Wir hatten nicht gedacht, dass die Deutschen so eine Art haben.‘ AfrikanerInnen in Deutschland zwischen 1880 und 1945, in: The Black Book. Deutschlands Häutungen, Frankfurt a.M./London 2004, S. 21-33.
- Artikel von May Ayim, in: Farbe bekennen. Afro-Deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte (hrsg. v. May Ayim/Katharina Oquntoye/Dagmar Schultz), 4. Auflage, Berlin 2016.
- Erste Deutsche Kolonialausstellung 1896. Treptower Park, unter: http://zurueckgeschaut.de/ (21.11.2019).
- Conrad, Sebastian: Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008.
Didaktische Hinweise
Durchführungsort
Für diese Station eignen sich Orte, die an Bismarck, Wilhelm II oder andere Personen der politischen Bühne erinnern. Sie kann so das Selbstverständnis und die ungebrochen positiven Erzählungen zu diesen Personen dieser aufbrechen. (In Jena nutzen wir den Bismarck-Brunnen.)
- Was verbindet ihr mit Bismarck? Was fällt Euch spontan ein?
Bismarck war der Kanzler des Deutschen Reiches von 1871 bis 1890. Heute wird im Zuge der Relativierung des deutschen Kolonialismus von der Ablehnung Bismarcks gegenüber dem Imperialismus gesprochen. Jedoch vollzog sich unter seiner Führung der Ausbau des Kolonialreiches – u.a. auf der sogenannte Afrika-Konferenz, zu der er einlud.
(Die Kontextualisierung des Kolonialismus mit den politischen Prozessen ist wichtig für die weiteren Stationen. Dennoch ist es wichtig, darauf zu achten, keinen 30min-Vortrag zu halten. Das kann die Teilnehmenden erschlagen. Vielleicht lassen sich Teile dieser Einführung zu eigenen Stationen ausbauen und mit lokalen Ereignissen verbinden. Uns ist diese Station wichtig, aber sie fordert uns immer noch heraus.)
[1] Bechhaus-Gerst, Marianne: ‚Wir hatten nicht gedacht, dass die Deutschen so eine Art haben.‘ AfrikanerInnen in Deutschland zwischen 1880 und 1945, in: The Black Book. Deutschlands Häutungen, Frankfurt a.M./London 2004, S. 21-33, hier: S. 25.
[2] Vorläufer-Institutionen der Deutschen Kolonialgesellschaft gab es bereits seit 1882.
[3] Dies bedeutete jedoch nicht, dass die ehemals deutschen Kolonien ihre Unabhängigkeit erreichten. Sie wurden lediglich neu „verteilt“. Deutsch-Südwestafrika geriet bspw. unter die Herrschaft Südafrikas. Dank deutscher Vorarbeit konnte das Regime dort anknüpfend ebenso die Apartheid in das gesellschaftliche System einführen.
[4] Schutztruppen wurden die deutschen Truppen in den Kolonien genannt.
[5] Bereits 1920 verabschiedeten alle Fraktionen des Reichstags – außer die USPD – eine Anfrage an die Regierung zum Abzug der Schwarzen Soldaten Frankreichs aus dem Rheinland. Die gleichen Fraktionen erklärten bereits 1919 ihren Protest gegen den Verzicht auf die Kolonien und forderten das koloniale Recht“ zurück. Auch da enthielt sich nur die USPD.